Einleitung
Der Berlin Science Survey (BSS) ist eine Trendstudie, die im 2-Jahres-Rhythmus die Erfahrungen und Einschätzungen von Wissenschaftler:innen im Berliner Forschungsraum erhebt. Im Fokus der Untersuchung steht die Entwicklung der Forschungspraktiken und Wissenschaftskultur am Wissenschaftsstandort Berlin, die nicht zuletzt durch Supraorganisationen wie der Berlin University Alliance (BUA) oder auch der Berlin Research 50 (BR 50) bedeutende Dynamiken erfahren könnte. Diesen Wandel empirisch zu begleiten ist das Anliegen des Projekts. Die Erfahrungen und Einschätzungen der Wissenschaftler:innen, sowie die teils sehr unterschiedlichen fachkulturellen Gegebenheiten sollen Eingang finden in ein kritisch reflexives Monitoring von intendierten und nicht intendierten Effekten wissenschaftspolitischer Steuerung.
Nach der Pilotstudie im Wintersemester 2021/22 wurde die zweite Welle Anfang 2024 durchgeführt. Informationen zum Sample und zur Erhebungsart finden sich hier:
https://www.berlinsciencesurvey.de/de/dokumentation/methodenberichte
Für die Auswertungen in diesem Report wurden Aussagen von 2.767 Wissenschaftler:innen aus dem Berliner Forschungsraum ausgewertet, darunter 2.032 Wissenschaftler:innen der vier BUA-Einrichtungen sowie weitere 735 von außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Berlin. Ergänzend wurden 2.471 Wissenschaftler:innen von Exzellenzuniversitäten außerhalb von Berlin befragt. Diese dienen als Vergleichssample, um zu prüfen, ob einzelne Ergebnisse nur für den Berliner Raum oder auch darüber hinaus Gültigkeit haben.
Mit der aktuellen Welle sind erstmalig auch Aussagen dazu möglich, welche Veränderungen sich im Berliner Forschungsraum in den letzten zwei Jahren ergeben haben. Dazu wurde ein Teil der Fragen aus der ersten Welle wiederholt aufgenommen, um solche Trendanalysen zu ermöglichen.
Im Mittelpunkt der zweiten Welle steht die Frage, was gute Rahmenbedingungen für die Wissenschaft sind. Somit werden insbesondere die Aspekte behandelt, die von den wissenschaftspolitischen Akteur:innen und dem Hochschulmanagement tatsächlich beeinflusst werden können. Während die Wissenschaftler:innen oftmals Gegenstand verschiedenster Bewertungs- und Evaluationsprozesse sind, in denen sie zumeist recht einseitig anhand ihres Outputs bewertet werden, gibt ihnen der Berlin Science Survey die Gelegenheit, ihr Forschungsumfeld und ihre Arbeitsbedingungen zu bewerten. Mit den Ergebnissen des Berlin Science Surveys stellen wir Daten und Perspektiven bereit, die die üblichen Forschungsinformationen ergänzen. Die survey-basierten Forschungsinformationen können Aufschluss darüber geben, inwiefern politische Steuerung und organisationale Weichenstellung funktionieren und wo sie vielleicht auch ihre eigentlichen Ziele verfehlen oder zu unintendierten und sonst nicht beobachteten Effekten führen.
Der Survey umfasste mehrere Themen, die die Rahmenbedingungen mit den Forschungskulturen in Verbindung setzen, die sich unter diesen Bedingungen entwickeln. Das ist zum einen das Ausmaß von Wettbewerb auf mehreren Ebenen, Ressourcen und Unterstützung durch die Einrichtungen, Arbeitskultur(en) und Motivation, sowie Arbeitsbelastungen. Forschungsqualität wird sowohl anhand der Orientierungen als auch der Praktiken der Forschenden beleuchtet und in den Kontext von Motivation und Arbeitsbelastungen gestellt. Zudem wird untersucht, welche Forschungskulturen dem Forschungsoutput und der Forschungsqualität zuträglich sind und welche eher nicht.
Forschungskulturen
Zentral für alle Analysen ist die Berücksichtigung verschiedener Forschungs- und Fachkulturen. „Die Wissenschaft“ ist kein homogenes Gebilde. Im Gegenteil sind mit den Fächern und den entsprechenden disziplinären Kulturen sehr unterschiedliche wissenschaftliche Praktiken verbunden (Knorr Cetina und Reichmann 2015). Die Forschungseinrichtungen wiederum schaffen Rahmenbedingungen, in denen sich die einzelnen disziplinären Kulturen lokal teils unterschiedlich entwickeln. Nicht alle Fächer reagieren auf gesetzte Bedingungen und Steuerungsmaßnahmen in gleicher Weise. Aufgrund disziplinärer Unterschiede in den Forschungspraktiken fällt es einigen Fächern leichter als anderen, neu aufkommende Erwartungen zu erfüllen oder sich mit Vorgaben oder Regularien zu arrangieren, zum Beispiel im Kontext von Evaluations- und Regulierungsprozessen. Daher haben Akzeptanz oder Reaktanz häufig weniger mit den individuellen Einstellungen der beteiligten Personen zu tun, als vielmehr mit der Passfähigkeit eines Forschungsfeldes im Hinblick auf bestimmte Steuerungs- und Evaluationsinstrumente.
Die Sicherstellung der Passgenauigkeit von Steuerungsinstrumenten und Maßnahmen unter Berücksichtigung disziplinärer Unterschiede sollte ein Ziel moderner hochschulpolitischer Steuerung sein, um Friktionen, Frustration und andere unintendierte Effekte zu vermeiden.
Selbstselektion
Um die Bedeutung der (Gestaltung von) Rahmenbedingungen zu untermauern, ist es hilfreich sich die Selbstselektionsprozesse in der Wissenschaft anzuschauen. Selbstselektionsprozesse werden anders als Selektionsprozesse (z.B. Auswahlverfahren) in der hochschulpolitischen Debatte oftmals unterschätzt, dabei sind sie ein Schlüssel zum Ziel, die besten Köpfe zu gewinnen bzw. zu halten. Selbstelektionsprozesse finden, wie Selektionen auch, auf jeder Stufe der wissenschaftlichen Laufbahn statt. Absolvent:innen entscheiden sich, ob sie nach dem Master promovieren möchten oder gleich in den Beruf einsteigen. Promotionsabsolvent:innen entscheiden sich, ob sie weiterhin in der Wissenschaft bleiben und eine akademische Laufbahn verfolgen wollen. Postdocs entscheiden sich, ob sie eine Professur anstreben, ob sie alternative Wege beschreiten, um in der Wissenschaft zu bleiben oder die Wissenschaft verlassen wollen. Gleichzeitig passiert derzeit viel auf dem Arbeitsmarkt: Die Generation Z hinterfragt bisherige Standards und Unternehmen reagieren auf veränderte Ansprüche ihrer Arbeitnehmer:innen. Wobei hier die Opportunitäten sehr fachspezifisch sind. Für all diese individuellen Entscheidungsprozesse sind die Einschätzungen und Beurteilungen der Rahmenbedingungen relevant. Wie attraktiv sind die Rahmenbedingungen? Wie attraktiv ist der Standort? Wie attraktiv ist eine Position in der Wissenschaft insgesamt und eine Professur im Besonderen? Dies alles wird verglichen mit anderen Berufen und Arbeitsplätzen auch außerhalb der Wissenschaft.
Forschungsqualität
Forschungsqualität ist aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung eines der am schwierigsten zu adressierenden Themen. Einerseits ist unklar, was damit konkret gemeint ist. Zum anderen sind mögliche Dimensionen von Forschungsqualität einer Messung und Metrisierung oft nur schwer zugänglich (Peterson und Panovsky 2021). Die Flut von immer neuen Forschungszielen und dafür bereitgestellten Metriken hat bereits zu deutlicher Kritik geführt (Wilsdon et al. 2015). Qualitativen Bewertungen, vor allem durch Peer Review, wird bei der Einschätzung von Forschungsleistungen der Vorzug gegeben (CoARA 2022). Doch warum sollten den Forscher:innen überhaupt Vorgaben gemacht werden? Und warum fixiert man sich bei den Leistungszielen so stark auf den Forschungsoutput?
Wird nur auf den Forschungsoutput geschaut, wird übersehen, unter welchen Bedingungen der Output eigentlich produziert wird – welche Forschungskulturen sich entwickeln. Dabei werden hier die Weichen für den Output gestellt und ist auch der Grundstein für Qualität gelegt. Etwas überspitzt könnte man sagen: Alles was uns an der Qualität des Outputs interessieren kann, steckt bereits in den Forschungskulturen und Forschungspraktiken, die wiederum maßgeblich durch die Rahmenbedingungen mitbeeinflusst werden. Ist die gesamte Forschungskultur auf Qualität ausgerichtet? Oder doch nur auf Quantität? Ist die Arbeitsbelastung so hoch, dass häufig Qualitätsabstriche, auch bei der Forschung, gemacht werden müssen?
Der Blick auf Forschungskulturen und -praktiken hilft, Schwachstellen und Fehlentwicklungen frühzeitig und an der Wurzel zu erkennen. Das eröffnet die Möglichkeit, Rahmenbedingungen entsprechend anzupassen, wenn sich die Forschungskulturen ungünstig entwickeln.
Ein solcher Wechsel der Perspektive, weg von der Outputkontrolle (ex post) hin zur Gestaltung von Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Forschungskulturen, geht auch einher mit einem größeren Vertrauen in die Wissenschaftler:innen. Sie haben von sich aus ein großes Qualitätsbewusstsein und wissen selbst am besten, welche Prioritäten sie setzen müssen, um gute Forschung in ihrem jeweiligen Feld umzusetzen. Dafür braucht es zunächst keine externen Anreizstrukturen. Im Gegenteil besteht bei jeder Form der Anreizsteuerung die Gefahr der Übersteuerung und Fehlleitung. Daher ist es wichtig, die Perspektiven der Wissenschaftler:innen aus unterschiedlichen Forschungskontexten zu kennen und sie im Sinne einer partizipativen Steuerung bei Change-Prozessen mitzunehmen. Nur so kann sichergestellt werden, dass Gestaltung tatsächlich zu Verbesserungen und Entlastungen führt und nicht zu neuen Belastungen oder anderen unintendierten Effekten.