Einleitung
Wissenstransfer ist eines der am stärksten forcierten wissenschaftspolitischen Ziele. Neben den klassischen Missionen „Forschung“ und „Lehre“ haben Universitäten eine „dritte Mission“ zu erfüllen: nämlich in die Gesellschaft hineinzuwirken (Compagnucci und Spigarelli 2020). Im Zusammenhang mit der dritten Mission kursieren mehrere Begriffe neben Wissenstransfer, wie beispielsweise Technologietransfer, Innovation und Societal Impact, die auf das gesellschaftliche Wirken von Wissenschaft verweisen.
Während in den Anfängen der Debatten um Wissenstransfer dieser eher als unidirektionaler Prozess der Übermittlung von fertigem Wissen, sprich Forschungsergebnissen, an verschiedene Akteur:innen in der Gesellschaft verstanden wurde, etabliert sich in aktuellen Debatten ein Wissenstransferbegriff, der Wissenschaft in stärkerem wechselseitigen Austausch mit der Gesellschaft sieht (Nowotny et al. 2001).
In jüngerer Zeit ist der Begriff Wissensaustausch (knowledge exchange) in den Vordergrund gerückt. Dieser betont, dass der Transfer nicht nur einseitig von der Wissenschaft in die Gesellschaft stattfinden muss, sondern in beide Richtungen, quasi als Interaktion, stattfinden kann und soll (Pohl et al. 2021; Olmos-Peñuela et al. 2014). Auch die Berlin University Alliance definiert „Knowledge Exchange als einen Prozess des wechselseitigen Austauschs von Wissen zwischen Akteur:innen aus den Wissenschaften und verschiedenen Bereichen der Gesellschaft wie Politik, Kultur und Wirtschaft“ (Berlin University Alliance 2023). Die verschiedenen Begriffe spiegeln alle den Wunsch wider, dass die Produkte und Erkenntnisse der wissenschaftlichen Arbeit gesellschaftlich relevant sein sollen und ihren Mehrwert für die Gesellschaft möglichst unter Beweis stellen. Hierbei besteht die Gefahr, dass Wissenschaft nurmehr nach aktuellen Nützlichkeitsnarrativen ausgerichtet wird und wissenschaftliche Erkenntnisse und wissenschaftlicher Fortschritt auf die Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme reduziert wird.
Für die Wissenschaftler:innen kann Wissenstransfer ein ambivalentes Ziel darstellen. Wird dieses Ziel als Forderung direkt an sie gerichtet, dann müssen sie dieses Ziel neben vielen anderen Aufgaben in die eigene Arbeit integrieren. Dies fällt je nach Forschungsgegenstand einigen leichter als anderen (Janßen und Schimank 2019). Während in anwendungsbezogenen Forschungsbereichen ein hoher Austausch mit Partner:innen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen plausibel und erwartbar ist, sieht das in der Grundlagenforschung ganz anders aus. Auf Grund der sehr unterschiedlichen Hürden, Wissenstransfer in die Forschungspraxis zu integrieren, besteht wie bei anderen wissenschaftspolitischen Imperativen auch hier die Gefahr, dass einzelne Wissenschaftler:innen die Forderung nicht adäquat umsetzen können und somit bei ihnen ein Druck aufgebaut wird, der weder sachgerecht noch zielgerichtet ist. Daher könnte Wissenstransfer auch als ein vorrangig organisationales Ziel und nicht als Aufgabe der Einzelwissenschaftler:innen angesehen werden.
Die Berlin University Alliance (BUA) hat die Vision, Berlin zu einem integrierten Forschungsraum zu entwickeln und Kooperationen sowohl zwischen den Einrichtungen als auch darüber hinaus zu stärken (Berlin University Alliance 2023). Hierbei soll auch multidirektional der Forschungs- und Wissenstransfer gefördert werden (ebd.). Um diese Zielsetzung in einem Monitoring zu begleiten, wurde der Berlin Science Survey (BSS) ins Leben gerufen, der den Wandel der Forschungskultur und Forschungspraktiken im Berliner Forschungsraum aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung beleuchtet. Im vorliegenden Bericht wird der Wissensaustausch zwischen den Wissenschaftler:innen im Berliner Forschungsraum und der Gesellschaft vertieft analysiert. Ausgehend von der Analyse des Ist-Zustands werden vorhandene Potenziale eruiert, um den Wissensaustausch zu intensivieren.
Die Basisauswertung des Berlin Science Surveys hat bereits gezeigt, dass die Relevanz der einzelnen Forschungsbereiche für verschiedene außerwissenschaftliche Gesellschafts-bereiche zwar variiert, insgesamt jedoch recht hoch eingeschätzt wird. Über alle Fächergruppen hinweg geben nur wenige Befragte an, dass ihre Forschung für keinen außerwissenschaftlichen Bereich relevant ist (Lüdtke und Ambrasat 2022a).
Im vorliegenden Schwerpunktbericht wird dem Thema Wissenstransfer auf drei Ebenen vertieft nachgegangen. Auf der Ebene der Praktiken schauen wir, wie umfangreich der Austausch zwischen Wissenschaftler:innen und außeruniversitären Akteur:innen ist. Wie schätzen die Wissenschaftler:innen die Relevanz ihrer eigenen Forschung für die Gesellschaft ein? Wo bestehen (noch) Potenziale, Wissenstransfer oder Austausch zu intensivieren? Bei den Einstellungen geht es um die Frage, wie die Wissenschaftler:innen das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft einschätzen? Wie autonom sollte ihrer Meinung nach die Wissenschaft gegenüber gesellschaftlichen Anforderungen sein? Wie sehr sollten sich Wissenschaftler:innen in politische Debatten einbringen? Nicht zuletzt schauen wir, wie die Befragten den Berliner Forschungsraum hinsichtlich Wissenstransfermöglichkeiten aufgestellt sehen und ob es gegebenenfalls Unterstützungs-bedarfe gibt.
Der vorliegende Bericht beantwortet diese Fragen anhand der Daten der Pilotstudie des Berlin Science Surveys (Lüdtke und Ambrasat 2022b). Es wurden 1.098 Fragebögen von Wissenschaftler:innen aus dem Berliner Forschungsraum ausgewertet, die im Wintersemester 2021/22 befragt wurden. Für diesen Survey wurden zwei umfangreiche Instrumente zur Erhebung der Transferpraxis und der Einstellungen der Wissenschaftler:innen zu Wissenschaft und Gesellschaft entwickelt. Zur Erfassung der Transferpraxis wurde erhoben, ob und mit welchen gesellschaftlichen Gruppen die Wissenschaftler:innen im Austausch stehen. Um den Austausch auch vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher Forschungsgegenstände angemessen kontextualisieren zu können, wurden die Wissenschaftler:innen vorab gefragt, für welche gesellschaftlichen Gruppen die eigene Forschung faktisch relevant ist. Ein neu entwickeltes Instrument zur Erhebung von Wissenstransfer ermöglicht eine sehr detaillierte Beschreibung der Qualität von Austauschprozessen. Mit ihm wird erhoben, in welchen Phasen des Forschungsprozesses ein Austausch mit außerwissenschaftlichen Akteur:innen stattfindet. Das Erhebungsinstrument ermöglicht einen dem Forschungsprozess nachgelagerten Wissenstransfer, der auch (reine) Wissenschaftskommunikation ex post umfasst, von einem intensiveren Wissenstransfer zu unterscheiden, bei dem der Austausch bereits während oder gar vor dem Forschungsprozess stattfindet
Um die Einstellungen der Wissenschaftler:innen zum Wechselverhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft zu erfassen, haben wir uns auf die folgenden drei zentralen Bereiche konzentriert: die Autonomie der Wissenschaft im Verhältnis zum gesellschaftlichen Nutzen von Wissenschaft, die Beteiligung von Wissenschaftlerinnen in politischen Debatten und die wissenschaftstheoretische Frage nach den Eigenschaften wissenschaftlichen Wissens.
Im Bericht werden alle für das Thema Wissenstransfer relevanten Teilthemen hinsichtlich möglicher Unterschiede zwischen den Statusgruppen, zwischen den Fächergruppen und schließlich auch zwischen den Geschlechtergruppen beleuchtet und diskutiert. Mit diesen drei wichtigen Strukturvariablen soll die Diversität der wissenschaftlichen Gemeinschaft berücksichtigt werden.
Die hierarchische Gliederung der Statuspositionen nach Professor:innen, Postdocs und Prädocs bildet nicht nur das Anstellungsverhältnis und die Karriereposition ab. Mit der Position verbinden sich auch ein jeweils spezifisches Aufgabenportfolio sowie Rollen in Forschung und Lehre. Darüber hinaus ist sie ein Indikator für die wissenschaftliche Erfahrung und die Ausstattung einer Forscherin bzw. eines Forschers mit Ressourcen wie Zeit, Geld und Macht.
Eine zweite zentrale Strukturvariable ist die Einteilung nach Fächern, wobei die Analysen hier differenziert nach den Fächergruppen Geistes-, Sozial-, Lebens-, Natur- und Ingenieurswissenschaften durchgeführt werden. Die Fachzugehörigkeit prägt die Forschenden durch routinierte Arbeitsabläufe, institutionelle Bedingungen und nicht zuletzt durch ein fachspezifisch vermitteltes Verständnis von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit. Doch auch innerhalb einer Fächergruppe gibt es teils sehr große Differenzen in den konkreten Arbeits- und Forschungsbedingungen. Unterschiede zwischen den Fächergruppen liefern daher nur (erste) Hinweise auf die Diversität von Forschungskontexten. Daher versuchen wir darüberhinausgehende Unterschiede in den Forschungskontexten durch die Hinzuziehung einiger epistemischer Merkmale der Forschung zu erfassen (vgl. Gläser 2018).
Die Unterscheidung nach männlichen und weiblichen Forschenden hat im Rahmen des Themas Wissensaustausch ebenfalls Relevanz, da aus der Netzwerkforschung bekannt ist, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede beim Aufbau von Netzwerken gibt (Lutter 2015). Solche Unterschiede können bspw. bei der Anbahnung von Austauschbeziehungen eine Rolle spielen.
Der Report beleuchtet als erstes den allgemeinen Stellenwert des Themas Wissenstransfer in der Berliner Scientific Community – vor allem auch in Relation zu anderen wissenschaftspolitisch geförderten Themen (Kap. 2). Danach werden Umfang und Potenziale des Wissenstransfers im Berliner Forschungsraum beleuchtet (Kap. 3). Anschließend werden Einstellungen zum Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft untersucht (Kap. 4) und in Relation zu den Forschungskontexten und Transferpraktiken gestellt (Kap. 5). Schließlich werden Rahmenbedingungen des Berliner Forschungsraums hinsichtlich des Wissenstransferpotenzials eingeschätzt (Kap. 6).
Der Schwerpunktbericht zu Wissenstransfer kann auch hier heruntergeladen werden.