Verhältnis von Wissenschaft & Gesellschaft
Die Wissenschaft steht in einem spannungsvollen Verhältnis zur Gesellschaft. Da die akademische Forschung zum größten Teil öffentlich finanziert wird, steht sie unter einem permanenten Rechtfertigungsdruck, ihre Leistungen gegenüber der Gesellschaft auszuweisen (Kaldeway 2013, Weingart 2001). Dieses Narrativ wird jedoch nicht nur kritisch gesehen, sondern von Wissenschaftsmanager:innen teils sogar gepusht, mit der Gefahr, die Autonomie der Wissenschaft zu schwächen, die wiederum Grundlage qualitativ hochwertiger Erkenntnisse und Innovationen ist.
Die Forderung nach Wissenstransfers ist einerseits geeignet, die Wissenschaftler:innen daran zu erinnern, dass sie letztlich für die Gesellschaft arbeiten. Andererseits besteht die Gefahr Forschung zu sehr an aktuellen gesellschaftlichen Problemen und Verwertungslogiken auszurichten und so eher längerfristig tragfähige Innovationen zu verpassen. Dies ist eine Gradwanderung, die auf Systemebene (von Wissenschaftspolitik) und Organisationsebene (Hochschulleitungen) austariert werden muss. Die Verantwortung dafür kann nicht bei den einzelnen Wissenschaftler:innen liegen. Dennoch kommen die Debatten und Diskurse um gesellschaftliche Verwertbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse auch bei den Wissenschaftler:innen an und das nicht erst dann, wenn der Ruf nach Wissenstransfer Eingang in die Leistungsindikatorik gefunden hat. Die Wissenschaftler:innen reagieren auch bereits jenseits implementierter Kontroll- und Anreizmechanismen sensibel auf wissenschaftspolitische Imperative. Einerseits, weil sie sich Vorteile bei der Projekteinwerbung oder in der Karriere versprechen, wenn sie neue Forderungen – wie Societal Impact – in ihren Anträgen aufgreifen. Andererseits auch, weil sie selbst manche Forderungen sinnvoll finden und ihre Forschung daran orientieren möchten.
Für uns ist es daher unerlässlich, neben den Praktiken auch die Einstellungen der Wissenschaftler:innen zu erheben. An den Einstellungen lässt sich ablesen, wie sich die Wissenschaftler:innen mit ihrer Arbeit in der Gesellschaft wahrnehmen und positionieren. Die Befragung der Wissenschaftler:innen verhält sich hierbei komplementär zu Befragungen der Bevölkerung über deren Sicht auf die Wissenschaft (Wissenschaft im Dialog 2022).
Um die Einstellungen der Wissenschaftler:innen zum Wechselverhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft zu erfassen, haben wir uns auf die folgenden 3 zentralen Bereiche konzentriert: die Autonomie der Wissenschaft im Verhältnis zum gesellschaftlichen Nutzen von Wissenschaft, die Beteiligung von Wissenschaftler:innen in politischen Debatten und die wissenschaftstheoretische Frage nach dem Status wissenschaftlichen Wissens.
Für die Umsetzung der Fragen im Fragebogen haben wir uns für zweiseitige, endverbalisierte Skalen, so genannte semantische Differenziale, entschieden. Diese stellen jeweils zwei Diskurspositionen gegenüber und ermöglichen es, dass sich die Befragten der einen oder der anderen Position zuordnen lassen. Gleichzeitig lassen sich die Zustimmungen zu den Positionen graduell abgestuft erheben.
Autonomie der Wissenschaft
Abbildung 19 veranschaulicht die Einstellungen der befragten Wissenschaftler:innen hinsichtlich der Frage, ob sich die Wissenschaft „ein hohes Maß an Autonomie gegenüber gesellschaftlichen Anforderungen bewahren sollte“ oder „sich in den Dienst der Gesellschaft stellen sollte“. Während sich in summa 45 % (eher) für ein hohes Maß an Autonomie gegenüber der Gesellschaft aussprechen, neigen mit 38,7 % etwas weniger Befragte zu der Aussage, Wissenschaft sollte sich in den Dienst der Gesellschaft stellen (siehe Abbildung 19). Die wissenschaftliche Community ist in dieser Frage also gespalten. Ein Sechstel der Befragten hat hier eine neutrale Position und hat sich keiner der beiden Positionen zugeordnet.
Die Abbildungen 20 und 21 zeigen den Status- und Fächergruppenvergleich zu der Einstellung bzgl. der Autonomie in der Wissenschaft. Demnach tendieren die Professor:innen, sowie die Natur- und Geisteswissenschaftler:innen ein wenig mehr zur Autonomie-Position, während die übrigen Status- und Fächergruppen hier eher auf der mittleren Kategorie verortet sind und sich demnach hier nicht klarer positionieren können oder wollen.
Abbildung 19 Einstellung zu Autonomie in der Wissenschaft
Abbildung 20 Einstellung zu Autonomie in der Wissenschaft, nach Statusgruppen
Abbildung 21 Einstellung zu Autonomie in der Wissenschaft, nach Fächergruppen
Die Rolle von Wissenschaftler:innen in öffentlichen Debatten
Bei der zweiten Einstellungserfassung rückt das Verhalten der Wissenschaftler:innen selbst und die Frage bezüglich der Einbringung in öffentliche Debatten in den Fokus. Hierzu haben wir zwei Positionen mit jeweiligen Gegenpositionen formuliert, zu denen die Befragten Stellung beziehen sollten (siehe Abbildung 22).
Während die Befragten beim Thema Autonomie in der Wissenschaft gespalten waren, ergibt sich hier ein größerer Konsens: Mit 82,5 % ist die absolute Mehrheit der Befragten der Meinung, dass Wissenschaftler:innen sich aktiv in öffentliche Debatten einbringen sollten, während nur knapp 8 % die Ansicht vertreten, Wissenschaftler:innen sollten sich aus diesen raushalten. Lediglich 9 % der Befragten haben sich hierbei nicht positioniert, bzw. waren unentschieden. Dieses klare Bild zeigt, wie sehr die Wissenschaftler:innen an die Bedeutung des von ihnen produzierten Wissens für Politik und Gesellschaft glauben. Darüber hinaus könnte es auch ein Ausdruck der Wahrnehmung sein, dass Politik und Gesellschaft zwar einen Bedarf an wissenschaftlichem Wissen haben, dieses jedoch aktuell nicht genügend berücksichtigen.
Wenn Wissenschaftler:innen in der Öffentlichkeit als „Expert:innen“ auftreten, macht es einen großen Unterschied, ob sie sich ausschließlich auf ihre Forschung und fachliche Expertise beschränken oder ob sie sich – ähnlich den public intellectuals – auch zu über ihre Forschung hinausgehenden Themen äußern. Medien und teils auch die Politik sehen es gern, wenn einzelne Wissenschaftler:innen eine solch breitere Expert:innenrolle einnehmen. Wir möchten herausfinden, wie die Wissenschaftler:innen selbst dazu stehen. Daher haben wir auch gefragt: Sollten sich Wissenschaftler:innen auf Aussagen zu Ihrer eigenen Forschung beschränken oder sich auch zu darüber hinausgehenden Themen einbringen?
Das Antwortbild ist erneut relativ klar, wenn auch nicht ganz so eindeutig wie zuvor. Insgesamt sind 62,7 % der Befragten der Ansicht, Wissenschaftler:innen sollten sich auf ihre Forschungsthemen beschränken. Von den Befragten meinen 27,2 %, Wissenschaftler:innen sollten sich zu über eigene Forschung hinausgehende Themen in öffentliche Debatten einbringen und knapp 10 % hatten hier keine bzw. eine neutrale Position.
Die Wissenschaftler:innen wünschen sich also eine starke Stimme der Wissenschaft in öffentlichen Debatten. Jedoch sollte die Expertise der jeweiligen Wissenschaftler:in und die daraus resultierende Wertschätzung durch Politik und Gesellschaft nicht unnötig strapaziert werden durch Äußerungen, die nicht auf eigener Expertise gründen.
Im Statusgruppenvergleich zeigen sich keine relevanten Unterschiede (siehe Abbildung 23). Die Fächergruppen unterschieden sich bei der Frage nach dem Einbringen in öffentliche Debatten auch nicht. Bezüglich der Frage nach der Beschränkung eigener Aussagen neigen die Sozial- und Ingenieurswissenschaftler:innen im Vergleich zu den anderen Fächergruppen stärker zu der Ansicht, man solle sich auf Aussagen zu den eigenen Forschungsthemen beschränken (siehe Abbildung 24).
Abbildung 22 Einstellungen zu Wissenschaftler:innen in öffentlichen Debatten
Abbildung 23 Einstellungen zu Wissenschaftler:innen in öffentlichen Debatten, nach Statusgruppen
Abbildung 24 Einstellungen zu Wissenschaftler:innen in öffentlichen Debatten, nach Fächergruppen
Der Status wissenschaftlichen Wissens (Werthaftigkeit & Objektivität)
Im April 2017 machten sich weltweit hunderttausende Wissenschaftler:innen im March for Science dafür stark, dass wissenschaftliches Wissen nicht verhandelbar sei (siehe bspw. https://marchforscienceberlin.de). Vorausgegangen waren zahlreiche politische Debatten, in denen wissenschaftliches Wissen bezweifelt und alternativen Fakten gegenübergestellt wurde. Dadurch hat die Frage nach dem Status wissenschaftlichen Wissens größere Aufmerksamkeit gewonnen und wurde zum Diskussionsgegenstand. Auch innerhalb der wissenschaftlichen Community gibt es kein einheitliches Verständnis über Status und methodologische Eigenschaften wissenschaftlichen Wissens. Vor dem Hintergrund der jüngsten Debatten und Irritationen habe wir uns zwei klassische wissenschaftstheoretische Streitpunkte zum Status des Wissens herausgesucht: einerseits in Anlehnung an Max Weber die Frage nach der Wertfreiheit wissenschaftlichen Wissens und andererseits die Frage nach dessen Objektivität (Weber 1968). Die Positionen dazu lauten:
A: Wissenschaftliches Wissen ist an sich wertfrei, es kommt darauf an, was Politik und die Gesellschaft daraus machen.
B: Wissenschaftliches Wissen ist an sich nicht wertfrei, sondern legt bestimmte Handlungsweisen nahe.
Empirisch zeigt sich, dass die befragten Wissenschaftler:innen sich in dieser Frage tatsächlich uneins sind (siehe Abbildung 25). So neigen 35 % der Wissenschaftler:innen (eher) der Position zu, Wissen sei an sich wertfrei und es komme darauf an, was die Politik und die Gesellschaft daraus machen. Demgegenüber halten 55,4 % das wissenschaftlichen Wissen nicht für wertfrei, sondern selbst für handlungsleitend. Knapp 10 % haben sich hier keiner Position zugeneigt.
Beim Thema Objektivität lauteten die Positionen:
A: Wissenschaftliches Wissen ist interpretationsoffen und stets vorläufig.
B: Wissenschaftliches Wissen ist objektiv und universell gültig.
Empirisch zeigt sich hier, dass eine Mehrheit von 56,7 % nicht die klassische Vorstellung der Objektivität und Universalität wissenschaftlichen Wissens vertritt, sondern (eher) der Aussage zustimmt, dass wissenschaftliches Wissen stets vorläufig und interpretationsoffen sei. Dennoch bekennen sich immerhin 27,3 % zur Objektivität und Universalität des wissenschaftlichen Wissens. Ein recht großer Anteil von 16 % hat sich bei dieser Frage auf keiner der beiden Seiten positioniert.
Der Statusgruppenvergleich (Abbildung 26) zeigt, dass es bei den zwei methodologischen Fragen zum Status des wissenschaftlichen Wissens keine Unterschiede zwischen Professor:innen, Postdocs und Prädocs gibt. Vielmehr werden bei dieser Frage dagegen klassische Fächergrenzen sichtbar (siehe Abbildung 27). So sind es die Geistes- und Sozialwissenschaftler:innen, die sowohl der Wertfreiheit weniger zustimmen als auch Wissen als weniger objektiv und viel häufiger als interpretationsoffen und vorläufig ansehen. Hier spiegelt sich der klassische Kontrast zwischen den "zwei Kulturen" (Snow 1959) – den Naturwissenschaften auf der einen Seite und den Humanties auf der anderen – und es zeigt sich, dass die individuellen Urteile stark aus der jeweiligen fachlichen Perspektive abgeleitet werden.
Abbildung 25 Einstellungen zu wissenschaftlichem Wissen
Abbildung 26 Einstellung zu wissenschaftlichem Wissen, nach Statusgruppen
Abbildung 27 Einstellung zu wissenschaftlichem Wissen, nach Fächergruppen