Stellenwert von Wissenstransfer neben anderen Zielen in der Wissenschaft
Wissenstransfer wird in der Wissenschaft ein steigender Wert beigemessen. Und so möchte auch die Berlin University Alliance Wissensaustausch mit gesellschaftlichen Akteur:innen im Berliner Forschungsraum befördern. Durch die Third Mission steigt die Anforderung das produzierte wissenschaftliche Wissen auf seine gesellschaftliche Verwertbarkeit hin zu prüfen oder gar eine gesellschaftliche Wirkung (Societal Impact) herbeizuführen. Obwohl gesellschaftliche Nützlichkeit nicht für alle Forschungsbereiche per se denselben Stellenwert hat, können wissenschaftspolitische Anforderungen und Diskurse durchaus Druck auf alle Wissenschaftler:innen ausüben und zur Folge haben, dass auch solche Wissenschaftler:innen diese neuen Ziele höher priorisieren, als für die eigentliche Forschung sinnvoll wäre.
Dieses Verhältnis von eigener wissenschaftlicher Zielsetzung, Erwartungsdruck und Priorisierung in der wissenschaftlichen Arbeit wurde mit einem im Projekt eigens dafür entwickelten Instrument untersucht. Dazu wurden die Befragten aus dem Berlin Science Survey gebeten, aus ihrer Sicht die Wichtigkeit von „gesellschaftlicher Verwertbarkeit der Forschungsergebnisse (Societal Impact)“, den diesbezüglichen wahrgenommenen Erwartungsdruck und der Priorisierung in der eigenen Forschungspraxis einzuschätzen – jeweils in Relation zu weiteren Zielen in der Wissenschaft.
Abbildung 1 stellt die Einschätzungen zu Societal Impact in Relation zu den anderen erhobenen wissenschaftlichen Zielen dar. Die gesellschaftliche Verwertbarkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse sehen die Wissenschaftler:innen dabei nicht als übergeordnetes Ziel an. Die Wichtigkeit dieses Ziels rangiert noch etwas hinter interdisziplinären Kooperationen und Open Science. Zugleich jedoch ist hier der Erwartungsdruck etwas höher als bei Open Science und interdisziplinären Kooperationen. Die Priorisierung von Societal Impact in der eigenen wissenschaftlichen Arbeit schließlich ist ebenfalls nicht besonders hoch, verglichen mit den anderen Aufgaben und Zielen. Hier rangiert der Wissensaustausch in etwa auf einer Höhe mit anderen wissenschaftspolitischen Imperativen wie Open Science und Interdisziplinarität.
Es ist anzunehmen, dass die Einschätzungen zu Societal Impact stark von Forschungskontexten und der Art des jeweils produzierten Wissens abhängen. Tatsächlich zeigen sich einige nennenswerte, wenn auch keine überragenden Unterschiede (siehe Abbildung 2). In den Ingenieurswissenschaften und noch mehr in den Sozialwissenschaften kann eine etwas höhere Wertschätzung für Societal Impact beobachtet werden – vor allem im Vergleich zu den Geisteswissenschaften. Das sind diejenigen Fachbereiche, in denen auch stärker anwendungsbezogen geforscht wird. Der Erwartungsdruck variiert dagegen kaum zwischen den Fächergruppen. Bei der Priorisierung liegen wiederum die Geistes- und die Sozialwissenschaftler:innen weit auseinander, wobei in den Sozialwissenschaften die gesellschaftliche Verwertbarkeit der Forschungsergebnisse am stärksten und in den Geisteswissenschaften zusammen mit den Naturwissenschaften am geringsten priorisiert wird.
Abbildung 1 Ziele, Erwartungsdruck und Priorisierung in der eigenen Arbeit
Abbildung 2 Ziele, Erwartungsdruck und eigene Priorisierung von Societal Impact, nach Fächergruppen
Die Einschätzungen für Societal Impact zeigen, dass über die Hälfte der Befragten „gesellschaftliche Verwertbarkeit der Forschungsergebnisse“ als „hohes Ziel“ (40,8 %) oder gar eines der „höchsten Ziele“ (15,8 %) innerhalb der Wissenschaft einordnet (siehe Abbildung 3). Gleichzeitig empfinden über 41 % der Befragten einen „hohen“ (30,7 %) oder sogar „sehr hohen“ (10,4 %) Erwartungsdruck, einen gesellschaftlichen Mehrwert durch die eigene Forschung zu erzielen. In der eigenen wissenschaftlichen Praxis schließlich wird diesem Ziel von 53,1 % der Befragten „keine Priorität“ (16,1 %) oder eine „geringe Priorität“ (37,0 %) eingeräumt und von 46,8 % eine „hohe“ (35,3 %) oder sogar „höchste Priorität“ (11,5 %). Die Priorisierung verschiedener Ziele in der eigenen Arbeit wird sowohl von der eigenen Ziel- und Wertsetzung als auch vom Erwartungsdruck getrieben. Gleichzeitig ist anzunehmen, dass der Erwartungsdruck, aber auch die Zielsetzung und Priorisierungen von spezifischen Rollenerwartungen abhängen. Daher schauen wir uns die Antwortverteilungen auch getrennt nach Statusgruppen an.
Abbildung 3 Societal Impact: Ziel, Erwartungsdruck, Priorisierung
Die Abbildungen 4 bis 6 zeigen die drei Einschätzungen – Wichtigkeit des Ziels, Erwartungsdruck und Priorisierung in der eigenen Arbeit – getrennt nach Statusgruppen. Auffällig ist, dass Prädocs Societal Impact eine größere Wichtigkeit zusprechen, als höhere Statusgruppen. Bei den Prädocs sind es 61,1 %, die die gesellschaftliche Verwertbarkeit der Forschung als „hohes“ oder „höchstes“ Ziel ansehen. Unter den Professor:innen sind es nur noch 46,3 %, die Societal Impact als „hohes“ oder gar „höchstes“ Ziel in der Wissenschaft ansehen (siehe Abbildung 4). Damit bestätigt sich ein Trend, den wir auch bei anderen Zielen sehen: Jüngere, bzw. weniger etablierte Wissenschaftler:innen sind schneller geneigt, sich mit wissenschaftspolitischen Zielen zu identifizieren als etabliertere Wissenschaftler:innen, im Besonderen Professor:innen. Umgekehrt sieht es beim Erwartungsdruck aus: Während 37,3 % der Prädocs angeben, einen hohen oder sogar sehr hohen Erwartungsdruck zu verspüren, ihre Forschung an gesellschaftlicher Verwertbarkeit auszurichten, sagen dies sogar 53,2 % der Professor:innen (siehe Abbildung 5). Bei der Priorisierung von Societal Impact in der eigenen Forschung zeigt sich, dass diese weniger durch den Erwartungsdruck und dafür mehr durch die eigene Zielformulierung bedingt wird: so sind es ein wenig häufiger die Prädocs (50,2 %), die hier Societal Impact eine „hohe“ oder sogar eine „höchste Priorität“ beimessen (siehe Abbildung 6), obwohl bei ihnen der Erwartungsdruck hinsichtlich Societal Impact am geringsten ist.
Abbildung 4 Societal Impact: normatives Ziel, nach Statusgruppen
Abbildung 5 Societal Impact: Erwartungsdruck, nach Statusgruppen
Abbildung 6 Societal Impact: Priorisierung, nach Statusgruppen
Die Abbildungen 7 bis 9 zeigen die Unterschiede bei normativer Zielsetzung, Erwartungsdruck und eigener Priorisierung von Societal Impact unterschieden nach Geschlecht. Demnach ist der Anteil derer, die Societal Impact als „hohes“ oder „höchstes Ziel“ ansehen bei den Frauen mit 65,1 % deutlich größer, als bei den Männern mit 49,2 % (siehe Abbildung 7). Gleichzeitig empfinden Frauen eher einen Erwartungsdruck bei dem Thema und priorisieren dieses auch in der eigenen Forschung höher als Männer (siehe Abbildungen 8 und 9). Bei der Interpretation ist jedoch zunächst Vorsicht geboten, da Geschlecht in nicht unbedeutendem Maße mit der Fächerstruktur konfundiert ist, und daher unklar ist, ob der Effekt wirklich ein Geschlechtereffekt ist oder sich letztlich auf die Fächerstruktur zurückführen lässt. Zu diesem Zweck werden im letzten Abschnitt dieses Kapitels multivariate Modelle gerechnet, um die Effekte zu trennen (Abbildungen 10 und 11).
Abbildung 7 Societal Impact: normatives Ziel, nach Geschlechtergruppen
Abbildung 8 Societal Impact: Erwartungsdruck, nach Geschlechtergruppen
Abbildung 9 Societal Impact: Priorisierung, nach Geschlechtergruppen
Die bivariaten Ergebnisse legen die Vermutung nahe, dass die Wahrnehmung von Erwartungsdruck primär aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Statusgruppe beeinflusst wird, während die normativen Zielsetzungen in der Wissenschaft auch durch die Zugehörigkeit zu Fächergruppen beeinflusst werden. Da die fünf hier kontrastierten Fächergruppen nur grob die dahinterliegenden Forschungskontexte widerspiegeln, lohnt es sich, weitere Merkmale zur Unterscheidung von Forschungskontexten zu betrachten.
Wir haben einige Merkmale ausgewählt, die ausgehend von der qualitativen Wissenschaftsforschung für die Unterscheidung von Forschungskontexten als relevant gelten (Gläser 2018, Laudel und Gläser 2014, Gläser et al. 2010). Die im Berlin Science Survey aufgenommenen Merkmale sind: theoretisch/konzeptionelles Arbeiten, empirisches Arbeiten, Arbeiten in Arbeitsgruppen oder Teams, experimentelles/hypothesentestendes Arbeiten, Arbeit folgt einer langfristigen Forschungsagenda, Arbeit ist Grundlagenforschung, Arbeit ist vom Wettbewerb mit anderen Forschungsgruppen geprägt, die am selben Thema arbeiten, Arbeit ist auf technische Infrastrukturen angewiesen.
In einem multivariaten Modell haben wir diese Merkmale zur Beschreibung verschiedener Forschungskontexte als unabhängige Variablen mit aufgenommen. Die Abbildungen 10 und 11 stellen die Ergebnisse von zwei multivariaten Analysen dar, die zum einen den Einfluss verschiedener Faktoren auf den wahrgenommenen Erwartungsdruck (Abbildung 10) und zum anderen auf die normative Zielsetzung bzgl. Societal Impact (Abbildung 11) schätzen.
Abbildung 10 Einflussfaktoren auf die Wahrnehmung eines Erwartungsdrucks bzgl. Societal Impact
Die Analyse der Einflussfaktoren auf den Erwartungsdruck bestätigt die zuvor identifizierten bivariaten Befunde (siehe Abbildung 10). Bei den Fächern zeigt sich, dass Wissenschaftler:innen der Lebens-, Natur- und Ingenieurswissenschaften verglichen mit denen in den Sozialwissenschaften einen geringeren Erwartungsdruck verspüren. Bezüglich der untersuchten Merkmale zur Identifikation von Forschungskontexten zeigt sich lediglich, dass, wenn die eigene Forschung „vom Wettbewerb mit anderen Forschungsgruppen geprägt ist, die am selben Thema arbeiten“, oder insbesondere wenn die eigene Forschung einer „langfristigen Forschungsagenda folgt“, ein größerer Erwartungsdruck gespürt wird, als wenn dies nicht der Fall ist. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Wettbewerb dort besonders groß ist, wo es um anwendungsbezogene, gesellschaftlich verwertbare Forschung geht. Der Erwartungsdruck wird insgesamt eher über die Fächer, als über die konkreten Forschungsbedingungen aufgebaut. Gleichzeitig ist die Zugehörigkeit zur Statusgruppe weitaus relevanter. So empfinden Postdocs und Prädocs verglichen mit den Professor:innen einen signifikant geringeren Erwartungsdruck beim Thema Societal Impact. Außerdem fühlen Frauen einen stärkeren Erwartungsdruck als ihre männlichen Kollegen.
Abbildung 11 Einflussfaktoren auf die normative Zielsetzung von Societal Impact
Abbildung 11 bestätigt die bivariaten Zusammenhänge, die bezüglich des Geschlechts, der Statusgruppen und der Fächergruppen gefunden wurden. So wird ersichtlich, dass aus Sicht der Frauen Societal Impact eine signifikant höhere Bedeutung zukommt. Auch spiegeln sich die bivariaten Befunde aus dem Statusgruppenvergleich im multivariaten Modell wider. So bewerten die Postdocs und Prädocs Societal Impact signifikant häufiger als „hohes“ oder „höchstes Ziel“, verglichen mit den Professor:innen. Des Weiteren bestätigt sich auch nach Kontrolle der anderen Faktoren, dass die Wichtigkeit von Societal Impact in den Geisteswissenschaften am geringsten und in den Sozialwissenschaften am größten eingeschätzt wird. Neben diesen Fächereffekten zeigt sich ein zusätzlicher Effekt bezogen auf das Merkmal Grundlagenforschung. Wissenschaftler:innen, die Grundlagenforschung betreiben, halten das Ziel gesellschaftlicher Verwertbarkeit der Forschungsergebnisse für weniger wichtig als andere Forschende, deren eigener Forschungsgegenstand per se einen größeren Anwendungsbezug hat.