Arbeitskulturen
Ein zentrales Teilkonzept des ganzheitlichen Konzepts Forschungskultur betrifft die Art der Zusammenarbeit im unmittelbaren Arbeitsumfeld der Wissenschaftler:innen – die Arbeitskultur. Um diese zu erfassen und zu unterscheiden, wurden mehrere Merkmale der Zusammenarbeit in einer Itembatterie erhoben, darunter Verteilungsprinzipien beim Umgang mit Ressourcen, wettbewerbliche Leistungsanreize und die Kommunikationskultur. Die Erhebung der Arbeitskulturen bezieht sich zunächst nur auf die Ebene der Praktiken. Es kann im Anschluss geschaut werden, inwiefern diese Formen der Zusammenarbeit mit dem Arbeitsklima und möglichen Outcomes wie Forschungsqualität und Forschungsrisiken zusammenhängen.
Die Arbeitskulturen im Berliner Forschungsraum erweisen sich als überwiegend geprägt von gegenseitiger Unterstützung, wertschätzender Kommunikationskultur und positiver Fehlerkultur (siehe Abbildung 23). So geben 40,2 % für ihr Umfeld an, dass sich überwiegend „alle gegenseitig unterstützen“ und 29,1 % geben sogar an, dass dies „voll und ganz“ zutrifft. Knapp zwei Drittel der Befragten geben an, dass in ihrem Arbeitsumfeld die Ressourcen nach Bedarf verteilt werden (43,7 % „überwiegend“ plus 19,6 % „voll und ganz“). 37,4 % der Wissenschaftler:innen geben an, dass „überwiegend“ eine wertschätzende Kommunikationskultur besteht und weitere 30,2 % geben sogar an, dass diese „voll und ganz“ besteht. Bezüglich der positiven Fehlerkultur geben 40,1 % an, dass dieses Merkmal auf ihr Arbeitsumfeld „überwiegend“ zutrifft und 20,4 % geben an, dass es „voll und ganz“ zutrifft.
Demgegenüber sind wettbewerbliche Leistungsanreize in deutlich weniger Kontexten dominierend. Knapp 20 % geben an, dass in ihrer Arbeitsgruppe („überwiegend“ oder „voll und ganz“) ein leistungsbezogener Wettbewerb herrscht. 32 % der Befragten sehen sich in einem Arbeitsumfeld, in dem diejenigen mehr gefördert werden, die mehr leisten. Diese Form der Verteilung von Förderung nach Leistung steht einer bedarfsgerechten Verteilung von Ressourcen partiell entgegen.
Für die weiteren Analysen wurden die Angaben für „überwiegend“ und „voll und ganz“ zusammengefasst, da wir diese Häufigkeiten als kulturprägend definieren. Wenn eine Arbeitskultur nur teilweise stattfindet, ist sie dagegen noch nicht in die Kultur integriert.
Im Fächergruppenvergleich zeigen sich geringe, aber keine grundsätzlichen Unterschiede (siehe Abbildung 24). So ist die gegenseitige Unterstützung bei den Geisteswissenschaften mit 59 % etwas seltener als in den anderen Fächern mit rund 70 %. Das passt dazu, dass in den Geisteswissenschaften häufiger allein gearbeitet wird, als in Feldern, wo Zusammenarbeit oder gar Arbeitsteilung unabdingbar sind. Auch die bedarfsbezogene Verteilung von Ressourcen ist mit 55 % bei den Geisteswissenschaften am geringsten ausgeprägt. Zum Vergleich: bei den Ingenieurswissenschaften ist sie mit 70 % am höchsten (siehe Abbildung 24).
Eine leistungsbezogene Förderung ist in den Geisteswissenschaften und in den Naturwissenschaften mit jeweils 27 % seltener Bestandteil der Arbeitskulturen als in den anderen Fächergruppen. Auf der anderen Seite wird sowohl in den Geisteswissenschaften (23 %) als auch in den Lebenswissenschaften (23 %) häufiger ein leistungsbezogener Wettbewerb im direkten Arbeitsumfeld wahrgenommen. In den Natur- und Ingenieurswissenschaften ist dieses Merkmal der Arbeitskultur mit 13,4 % bzw. 13,7 % besonders selten anzutreffen. Auch bei der positiven Fehlerkultur unterscheiden sich Natur- von Geisteswissenschaften am deutlichsten mit 64 % zu 55 %. Zu betonen ist jedoch, dass die Unterschiede zwischen den Fächergruppen insgesamt nicht so groß ausfallen, dass man sagen könnte, das Fach allein determiniert die Arbeitskultur. Das Gegenteil ist der Fall: In allen Fächergruppen kommen alle Formen von Arbeitskulturen vor.
Die Einschätzungen zu den Arbeitskulturen sind zum Teil bedingt durch die Rolle, bzw. Position in der sich die befragten Wissenschaftler:innen innerhalb der Arbeitsgruppen befinden (siehe Abbildung 25). So sind es vor allem die Professor:innen, die positivere Bewertungen abgeben als Postdocs und Prädocs (siehe Abbildung 25). Das ist nicht erstaunlich, da es die Professor:innen sind, die als Führungspersonen die meisten Gestaltungsmöglichkeiten haben und somit die Arbeitskultur in den Arbeitsgruppen wesentlich mitprägen. Besonders weit gehen die Bewertungen bei der Kommunikations- und Fehlerkultur auseinander. Während nur 66 % der Postdocs und 62 % der Prädocs ihrer Arbeitsgruppe eine wertschätzende Kommunikationskultur bescheinigen, sind es bei den Professor:innen 88 %. Aus der Statusgruppe geben außerdem 77 % an, dass in ihrer Arbeitsgruppe eine positive Fehlerkultur herrscht, bei den Postdocs sind es dagegen nur 57 % und bei den Prädocs 58 %.
Auf der anderen Seite sehen die Professor:innen auch eine stärkere leistungsbezogene Förderung innerhalb der Arbeitsgruppen. Während 41 % der Professor:innen angeben, in den Arbeitsgruppen werden diejenigen mehr gefördert, die mehr leisten, sehen dies unter den Postdocs und Prädocs nur 30 % so. Entsprechend sehen auch weit mehr Professor:innen (27 %) einen leistungsbezogenen Wettbewerb in der Gruppe. Bei den Prädocs sind es nur 15 %. Die gegenseitige Unterstützung wird bei den Professor:innen ebenfalls höher eingeschätzt (siehe Abbildung 25).
Leistungsbezogener Wettbewerb und Förderungen sind in der hier abgefragten Form per se weder gut noch schlecht, sondern beschreiben nur, inwiefern wettbewerbliche Elemente, die außerhalb des engeren Arbeitsumfeldes und im Besonderen im Forschungsfeld dominieren, auch in den Arbeitsgruppen praktiziert werden. Die Zusammenhänge der jeweiligen Arbeitskulturen mit anderen Aspekten der Forschungskulturen, die stärker auf die Ergebnisse verweisen, werden in den folgenden Kapiteln ausführlich betrachtet.
Basierend auf den Angaben zur Zusammenarbeit im direkten Arbeitsumfeld (siehe Abbildung 23) lassen sich vier unterschiedliche Typen von Arbeitskulturen explorieren.[1] Diese sind durch zwei tieferliegende Dimensionen charakterisiert: Kooperation und Wettbewerb.
Die vier Arbeitskulturtypen ergeben sich entsprechend in Abhängigkeit vom Level an Kooperation und Wettbewerb (siehe Abbildung 26). 50 % der Befragten befinden sich in Arbeitsumfeldern, in denen überwiegend kooperative Zusammenarbeit herrscht und gleichzeitig nicht oder höchsten teilweise leistungsbezogener Wettbewerb implementiert ist (türkisfarbenes Feld). 22 % der Befragten sehen sich ebenfalls in kooperativen Arbeitsumfeldern, jedoch mit leistungsbezogenem Wettbewerb (gelbes Feld). Insgesamt 28 % der Befragten finden sich in Arbeitsumfeldern mit wenig, also höchstens teilweiser Kooperation, und zwar 18 % ohne wettbewerbliche Elemente (blaues Feld) und 10 % bei gleichzeitigem Wettbewerb (rotes Feld).
Insgesamt knapp drei Viertel der Befragten befinden sich in kooperativen Kontexten mit überwiegend positiver Kommunikations- und Fehlerkultur, in denen sich alle gegenseitig unterstützen und Ressourcen nach Bedarf geteilt werden. Das ist ein erfreulich hoher Wert. Gleichzeitig ist anzunehmen, dass die restlichen 28 % der Befragten in möglicherweise problematischen Kontexten arbeiten.
Insgesamt berichten 32 % von leistungsbezogenen Wettbewerbsstrukturen in ihrem unmittelbaren Arbeitsumfeld, während in 68 % der Fälle eher geringer oder gar kein Wettbewerb im direkten Arbeitsumfeld wahrgenommen wird (siehe Abbildung 26).
Schaut man sich die Verteilung der Typen von Arbeitskulturen in den einzelnen Fächergruppen an, so zeigt sich, dass alle Arbeitskulturen in allen Fächergruppen vorhanden sind und auch recht ähnlich verteilt sind. Gerade bei den Sozialwissenschaften gibt es quasi keine Abweichungen vom Durchschnitt (siehe Abbildung 27). Jedoch lassen sich einige kleinere Unterschiede feststellen. So findet sich die Arbeitskultur „hohe Kooperation, schwacher Wettbewerb“ mit 41,4 % seltener in den Geisteswissenschaften verglichen mit dem Durchschnitt (50 %), dafür häufiger in den Natur- (mit 57,1 %) und Ingenieurswissenschaften (mit 54,3 %). Die Forschungskultur „niedrige Kooperation, schwacher Wettbewerb“ dagegen ist in den Geisteswissenschaften mit 24,6 % häufiger als im Durchschnitt aller Fächer, bei dem sie in 17,5 % der Fälle anzutreffen ist (siehe Abbildung 27).
[1] Hierfür wurde eine Hauptkomponentenanalyse gerechnet (PCF), aus der zwei Hauptfaktoren nach Kaiserkriterium hervorgingen. Die Faktorlösung wurde rotiert und dabei die Orthogonalität der Faktoren bewahrt. Die zwei Faktoren erklären zusammen 67% der Gesamtvarianz und haben jeweils eine Reliabilität von: Kooperation: 0.84 (4 Items), Wettbewerb:0.45 (2 Items).