Qualitätsrisiken
Im Rahmen der Analyse der Arbeitsbelastungen (Kap 5.2.2) wurde gezeigt, dass 28,5 % der Befragten „oft“, „sehr oft“ oder sogar „immer“ Qualitätsabstriche bei der Arbeit machen müssen (vgl. Abb. 48, Kap 5.2.2). Nun geht es um die Frage, in welchen Bereichen die Wissenschaftler:innen Qualitätsabstriche machen, wenn sie aufgrund der Arbeitsbelastung gezwungen sind, Abstriche zu machen. Es zeigt sich, dass trotz der hohen Priorität von Forschungsqualität, Qualitätsabstriche aufgrund der hohen Arbeitsbelastung am häufigsten gerade im Bereich der Forschung gemacht werden (siehe Abbildung 56). Von denen, die regelmäßig Qualitätsabstriche machen müssen, geben dies über 80 % an. Gleichzeitig sehen sich fast 50 % gezwungen, auch bei Lehr- und Prüfungsaufgaben Qualitätsabstriche zu machen. Bei der Gremienarbeit bzw. akademischen Selbstverwaltung gibt es dagegen seltener Qualitätseinschnitte. Vor dem Hintergrund, dass Forschung und Lehre die Kernaufgaben darstellen und zugleich einen hohen Stellenwert in den eigenen Zielsetzungen der Wissenschaftler:innen haben (vgl. Abbildung 55), ist dieses Ergebnis ziemlich ernüchternd. Es bedeutet, dass die Wissenschaftler:innen gezwungen sind, aufgrund der Fülle der Aufgaben genau bei den Teilaufgaben Qualitätsabstriche zu machen, die ihnen selbst besonders wichtig sind. Das kann ziemlich frustrierend und auf Dauer auch demotivierend sein.
Forschungsqualität wird oft ex negativo definiert und zwar basierend auf Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens, Zurücknahmen von bereits publizierten Artikeln (Retractions) oder fragwürdigen Forschungspraktiken. Obwohl es erprobte Möglichkeiten gibt, sich diesen Themen surveybasiert zu nähern (Schneider et al. 2024), wurden die Befragten im BSS nicht zu Selbsteinschätzungen zur Qualität ihrer eigenen Forschung gebeten. Stattdessen wurde nach Einschätzungen des eigenen Forschungsumfeldes gefragt und hierbei auf Praktiken fokussiert, die auf Qualitätsmängel oder Risken hinweisen, ohne selbst bereits wissenschaftliches Fehlverhalten darzustellen.
In Abbildung 57 ist dargestellt, wie häufig gewisse qualitätsmindernde Praktiken im Forschungsumfeld beobachtet werden. 20 % der Befragten beobachten in ihrem Umfeld, dass Publikationen eingereicht werden, die nicht die nötige Qualität aufweisen. 18 % sehen Einreichungen trotz mangelnder Qualität bei Drittmittanträgen. 26 % sehen, dass Drittmittelanträge nicht zu Kernforschungsthemen eingereicht werden. Auch wenn diese Praktiken nicht per se Qualitätsmängel indiziert, so verweist sie doch auf mögliche Verschiebungen in den Forschungsstrategien, die wiederum Risiken für die Qualitätssicherung bergen könnten. Gleichzeitig sind solche Praktiken häufig auch Reaktionen auf forschungspolitische Rahmenbedingungen und Anreizstrukturen bei der Forschungsförderung. 47,4 % der Wissenschaftler:innen beobachten, dass die Forschung nach Modethemen anstatt nach einer eigenen langfristigen Forschungsagenda ausgerichtet wird. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Wissenschaftler:innen ihre Forschungsinhalte zu einem bedeutenden Teil der Forschungsförderung unterordnen müssen und nicht oder nur zum Teil ihren eigenen Forschungsinteressen folgen können. Dies ist sicherlich in der prekären Finanzierungssituation von Forschung begründet, birgt aber zwei Probleme: Zum einen droht die intrinsische Motivation hierdurch zu leiden, zum anderen steht diese Strategie dem Ausbilden und Verfolgen einer eigenen „längerfristigen“ Forschungsagenda entgegen und kann damit nicht nur der eigenen Karriere schaden, sondern auch der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung insgesamt.
Im Vergleich der Fächergruppen zeigen sich kleine, aber nicht zu vernachlässigende Abweichungen. So berichten vor allem die Befragten aus den Geisteswissenschaften häufiger in ihrem Umfeld qualitätsmindernde Praktiken wahrzunehmen (siehe Abbildung 57). Das gilt im Besonderen für das „Einreichen von Publikationen trotz fehlender Qualität“, was 30 % der Geisteswissenschaftler:innen, aber nur rund 20 % der Vertreterinnen anderer Fächer berichten. Qualitätsmängel bei der Einreichung von Drittmitteln werden ebenfalls etwas häufiger in den Geisteswissenschaften beobachtet. Ob das mit höheren Qualitätsansprüchen, einem höheren Wettbewerb im Feld und unter Kolleg:innen (vgl. Abbildung 21) und damit verbundenem kritischeren, oder gar missgünstigerem Beäugen der Arbeiten der Kolleg:innen zu tun hat, kann hier nicht geklärt werden. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass weniger qualitätssichernde Praktiken im Forschungsalltag praktiziert werden, was im übernächsten Abschnitt betrachtet wird.
Deutlich stärkere Zusammenhänge als mit den Fächergruppen, zeigen sich mit den vier vorherrschenden Arbeitskulturen. So werden qualitätsmindernde Praktiken deutlich seltener im Umfeld der Kulturen wahrgenommen, die von hoher Kooperation und schwachem Wettbewerb gekennzeichnet sind (siehe Abbildung 58). Etwas häufiger sind sie im Umfeld hoher Kooperation und starkem Wettbewerb zu beobachten, aber deutlich häufiger in den kooperationsarmen Kontexten. Das Setzen auf Modethemen und Einreichen von Publikationen trotz fehlender Qualität findet in der Arbeitskultur mit wenig Kooperation bei gleichzeitig starkem Wettbewerb offensichtlich am häufigsten statt. Zum Glück ist diese Arbeitskultur weniger weit verbreitet, da nur 10 % der Befragten in dieser Kultur arbeiten (vgl. Abbildung 26), während die hier deutlich positiver abschneidende Arbeitskultur mit hoher Kooperation bei geringem Wettbewerb durch 50 % der Befragten repräsentiert wird.