Humboldt-Universität zu Berlin - Deutsch

Selektion und Selbstselektion

In den Diskussionen zur Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses werden häufig prekäre Beschäftigungsbedingungen und fehlende Karriereperspektiven thematisiert. Gleichzeitig passiert derzeit viel auf dem Arbeitsmarkt: Die Generation Z hinterfragt bisherige Standards und Unternehmen reagieren auf veränderte Ansprüche ihrer Arbeitnehmer:innen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Attraktivität der Wissenschaft als Arbeitsplatz. Ist die Wissenschaft in der Lage, benötigtes Personal zu rekrutieren oder droht sie aufgrund der teils schwierigen Arbeitsbedingungen und Karriereperspektiven gegenüber den außeruniversitären Arbeitsmärkten ins Hintertreffen zu geraten? Und fühlen sich die Wissenschaftler:innen unterhalb der Professur für die unterschiedlichen Berufswege auch gut vorbereitet und unterstützt? Gerade das Thema Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist eines, bei dem Einrichtungen trotz gegebener nationaler Rahmenbedingungen einiges tun können

Im Berlin Science Survey wurden diese Themen von zwei Seiten beleuchtet, die der Selektion und der Selbstselektion. Einerseits wurde nach der Rekrutierungssituation gefragt, also der Möglichkeit, geeignete Bewerber:innen zu finden. Andererseits wurden die Karriereziele der Nachwuchswissenschaftler:innen erfragt, worin sich Selbstselektionsprozesse offenbaren. Wer möchte überhaupt gern in der Wissenschaft bleiben und sieht hier für sich eine berufliche Zukunft? Um die Karriereziele besser verstehen zu können, wurden Postdocs und Prädocs außerdem nach Aspekten der Nachwuchsförderung gefragt. Für eine Karriere in der Wissenschaft muss der Nachwuchs schließlich gut aufgestellt sein.

Die bisher in Wissenschaftspolitik und Management dominierende Logik geht davon aus, dass genügend geeignete und hochmotivierte Wissenschaftler:innen das Berufsziel Wissenschaft anstreben und somit ein großes Reservoir vorhanden ist, aus dem geeignete oder gar „die besten“ Kandidat:innen ausgewählt werden können. Diese Annahme geht oft mit einer weiteren einher, und zwar dass diese Kandidat:innen die wissenschaftliche Karriere so sehr wollen, dass sie für diese auch bereit sind, einige Hürden und Beschwerlichkeiten in Kauf zu nehmen. Doch der Wind scheint sich zu drehen. Nicht nur sind die eher mäßigen Arbeitsbedingungen und Perspektiven insbesondere im Mittelbau seit längerem bekannt, auch die Attraktivität des Berufsbilds Professur wird nicht (mehr) durchgehend positiv bewertet (vgl. Abbildung 1, Kapitel 2.1).

Vor diesem Hintergrund ist der aus dem BSS hervorgehende Befund zu den Karrierezielen nicht überraschend (Abbildung 37). Aufgrund der von den Befragten als eher schlecht eingeschätzten Rahmenbedingungen in der Wissenschaft (siehe Kapitel 2.1) kann man befürchten, dass die Positionen in der Wissenschaft nicht mehr so attraktiv sind, wie früher. Um dies zu untersuchen, wurden alle Befragten in nicht professoralen Positionen nach ihren langfristigen Karrierezielen gefragt.

Zwar möchten gut 70 % der befragten Wissenschaftler:innen gern in der Wissenschaft bleiben, jedoch strebt der größere Teil, nämlich 43 % eine andere Position in Forschung und Lehre an als eine Professur. Letztere ist noch für 27,5 % ein Ziel (ohne Abbildung). Weit mehr Postdocs als Prädocs geben als Karriereziel die Professur an. Der Anteil derjenigen Postdocs, die eine andere Position in Forschung und Lehre anstreben, ist dennoch beachtlich höher. In dem hohen Anteil von Doktoranden mit einem Karriereziel außerhalb der Wissenschaft spiegelt sich, dass das deutsche Hochschulsystem traditionell viele Promovierte für die externen Arbeitsmärkte ausbildet und nicht nur als eigenen „Nachwuchs“. Inwieweit diese Verteilungen individuelle Präferenzen oder auch Einschätzungen von Chancen abbilden, lässt sich aus den Daten nicht ablesen. Im Geschlechtervergleich zeigt sich, dass mit 38,1 % gegenüber 31,9 % mehr männliche Postdocs eine Professur anstreben als weibliche Postdocs (siehe Abbildung 37). Dagegen sind Frauen beider Statusgruppen eher daran interessiert, andere Positionen in Forschung und Lehre einzunehmen, als Männer (siehe Abbildung 37).

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Abbildung 37 Karriereziel, nach Statusgruppen und Geschlecht

Für die Wissenschaftler:innen des Mittelbaus ist es wichtig, dass sie für Karrierewege innerhalb und außerhalb der Wissenschaft gut vorbereitet sind. Nur so können sie letztlich auch frei entscheiden, welchen Karriereweg sie einschlagen wollen. Und nur so haben die Einrichtungen eine Chance die geeignetsten und motiviertesten Kandidat:innen zu erreichen.

Abbildung 38 zeigt, wie gut bzw. schlecht sich die Wissenschaftler:innen des Mittelbaus auf Karrieren innerhalb und außerhalb der Wissenschaft vorbereitet fühlen. Nur etwa die Hälfte des wissenschaftlichen Mittelbaus fühlt sich für einen Karriereweg in der Wissenschaft gut vorbereitet. Für Karrierewege außerhalb der Wissenschaft fühlen sich mit 36,6 % noch etwas weniger gut vorbereitet (siehe Abbildung 38). 21 % fühlen sich für beide Wege gut aufgestellt (ohne Abbildung). Gleichzeitig sehen sich 38 % weder für einen Berufsweg innerhalb noch außerhalb der Wissenschaft gut aufgestellt (ohne Abbildung). Hier haben die Universitäten offensichtlich ihren Arbeitsauftrag verfehlt, den akademischen Nachwuchs auf realistische Berufswege vorzubereiten. Im Bereich Nachwuchsförderung besteht hier eindeutig noch Handlungsbedarf.

Die Vernetzung mit statusgleichen Wissenschaftler:innen funktioniert für die Hälfte der Wissenschaftler:innen gut, wobei die Vernetzung der Postdocs ein wenig besser ist, als die der Prädocs. Transparente Leistungseinschätzungen durch Vorgesetzte bekommen weniger als die Hälfte der befragten Nachwuchswissenschaftler:innen und 28,2 % geben an, dass die Aussage, transparente Leistungseinschätzungen von Vorgesetzten zu bekommen, überhaupt nicht zutrifft (siehe Abbildung 38).

 

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Abbildung 38 Nachwuchsförderung

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Abbildung 39 Nachwuchsförderung, nach Geschlecht und Statusgruppe

Im Vergleich nach Geschlecht und Statusgruppen zeigen sich deutliche Unterschiede (siehe Abbildung 39). So fühlen sich insgesamt die Postdocs besser auf eine Karriere in der Wissenschaft vorbereitet, als die Prädocs. Da letztere erst am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn stehen, ist dies nicht weiter verwunderlich. Die geschlechtsbezogenen Unterschiede erklären zum Teil die verschiedenen Karriereabsichten zwischen Männern und Frauen (vgl. Abbildung 37). So fühlen sich 57,5 % der männlichen Postdocs, aber nur 49,4 % der weiblichen Postdocs gut auf eine Karriere in der Wissenschaft vorbereitet (siehe Abbildung 39). Für den Berufsweg außerhalb der Wissenschaft sehen sich Prädocs besser vorbereitet als Postdocs. Dabei geben 53,9 % der männlichen Prädocs, aber nur 36,7 % der weiblichen Prädocs an, sich gut vorbereitet zu fühlen (siehe Abbildung 39). Das Gefühl, nicht gut genug auf eine wissenschaftliche Karriere vorbereitet zu sein, könnte ein Grund für die geringeren Karriereambitionen der Frauen sein.

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Abbildung 40 Bewerbungslage, nach Fächergruppen

Wie sieht es nun auf der Selektionsseite aus? Können die Einrichtungen (noch) auf genügend geeignete Bewerber:innen zugreifen oder haben sich zu viele bereits gegen den Beruf Wissenschaft entschieden?

Das Ergebnis ist durchwachsen (Abbildung 40). Nicht in allen Bereichen gibt es eine hinreichend gute Bewerbungslage. Unterschiede zeigen sich in Abhängigkeit von der Karrierestufe und im Fächervergleich. In den Geistes- und Sozialwissenschaften aber auch den Lebenswissenschaften ist insbesondere die Gewinnung geeigneter Prädocs weitgehend unproblematisch. Hier bewerten rund 70 % der Befragten die Möglichkeit „geeignete Kandidat:innen“ zu gewinnen als „eher gut“ oder „sehr gut“. In den Naturwissenschaften (60 %) und noch ausgeprägter in den Ingenieurswissenschaften (51 %) bereitet bereits die Besetzung von Prädoc-Stellen teilweise Schwierigkeiten. Bei den Postdocs wird es in allen Fächergruppen etwas schwieriger: Hier geben nur noch zwischen 63 % (Geisteswissenschaften) und 41 % (Ingenieurswissenschaften) an, dass die Rekrutierungssituation (eher) gut sei. Die Rekrutierungssituation bei den Professuren unterscheidet sich gegenüber der bei den Postdocs nur in den Lebenswissenschaften. Hier ist ein deutlicher Abfall zu beobachten, d.h. nur noch 40 % schätzen die Rekrutierungslage für Professuren als gut ein. In den Geisteswissenschaften (65 %), Sozialwissenschaften (64 %), Naturwissenschaften (49 %) und den Ingenieurswissenschaften (40 %) unterscheidet sich die Rekrutierungssituation nicht von der auf Postdoc-Ebene (siehe Abbildung 40).

In den MINT-Fächern beurteilt die Mehrheit der Befragten also die Rekrutierungssituation für Postdoc-Stellen und Professuren als eher schlecht (siehe Abbildung 40). Damit zeigt sich, dass die Fächer mit guten Karrierechancen außerhalb der Wissenschaft bereits jetzt teilweise mit unzureichenden Bewerber:innenlagen zu kämpfen haben. Es ist davon auszugehen, dass unter den gegenwärtigen Arbeitsmarktbedingungen, den gestiegenen Ansprüchen der Generation Z und verbesserten Arbeitsbedingungen außerhalb der Wissenschaft, sich die Schwierigkeit, geeignete Kandidat:innen zu gewinnen, über alle Fächer hinweg verschärfen wird. Daher scheint es unabdingbar, dass auch die wissenschaftlichen Einrichtungen und die Wissenschaftspolitik ihre bisherigen „Logiken“ überdenken und hier nachsteuern. Dabei gilt es, Wissenschaft als Beruf insgesamt attraktiver zu machen und nicht nur auf die intrinsische Motivation der Wissenschaftler:innen zu setzen. Das schließt neben den viel diskutierten Beschäftigungsbedingungen und Karrierewegen für den Mittelbau auch die Attraktivität der Professur und deren Arbeitsbedingungen mit ein.